Die Meerengen

Die Dardanellen

Geographische Lage:

Die Dardanellen (türkisch: Canakkale Bogazi) sind eine schmale Wasserstraße zwischen der Halbinsel Gallipoli an der Nordseite und dem kleinasiatischen (anatolischen) Festland an der Südseite. Sie verbinden das Mittelmeer mit dem Marmara-Meer. Von dort kann man durch den Bosporus bei Istanbul in das Schwarze Meer gelangen. Die Dardanellen sind rund 70 km lang. Die Tiefe beträgt durchschnittlich 50 m. Von Norden kommend sind die Dardanellen zunächst nur 4,5 km – 5 km breit. Bei Nagara, auf der Hälfte der Strecke, verengen sie sich auf 1,4 km und sind beim Bogen von Canakkale nur noch 1,3 km breit. An diesen beiden Punkten lagen die Hauptbefestigungen der Türken, um die Straße in Kriegszeiten sperren zu können. Außerdem ist die Durchfahrt wegen einer starken Strömung ohne Hilfe durch einen Lotsen nur sehr schwer möglich. Am Ausgang der Dardanellen in das Mittelmeer liegen noch zwei Inseln: Imbros (Gökceada) vor Gallipoli und Tenedos (Bozcaada) vor der anatolischen Küste. Während der Schlacht von Gallipoli 1915 waren sie wichtige Flottenstützpunkte der alliierten englisch-französischen Streitkräfte.

Das asiatische Ufer der Dardanellen ist reich gegliedert: waldreiche Bergrücken und fruchtbare Flussebenen. Das größte Flusstal ist das Flusstal des Menderes, der an der asiatischen Ecke der Dardanellen ins Ägäische Meer (Teil des Mittelmeeres) mündet. Dicht an seinem Ufer hat das alte, durch den griechischen Dichter Homer bekannte Troja gelegen. Es wurde Ende des 19. Jahrhunderts von dem deutschen Archäologen Schliemann wiederentdeckt. Das europäische Ufer auf der Halbinsel Gallipoli (90 km lang) ist sehr bergig, mit teilweise sehr steilen Hängen. Nur an wenigen Stellen gibt es flache Strände.

Geschichte:

Die Dardanellen haben seit alten Zeiten im Mittelpunkt der Weltpolitik gestanden. Sie sind der Schlüssel zu Istanbul (Konstantinopel); die Brücke zwischen Europa und Asien. Im Altertum war diese Landbrücke sehr wichtig.

Im Jahr 400 v.Chr. überschritt der Perserkönig Xerxes die Meerenge bei Nagara, um auf dem Landweg nach Griechenland zu kommen. 334 v.Chr. setzte Alexander der Große hier über, um Kleinasien zu erobern. Danach spielte die Meerenge über viele Jahrhunderte keine besondere Rolle mehr, weil für die römischen Kaiser das westliche Mittelmeer wichtiger wurde. Erst mit dem Erstarken der türkischen Herrschaft im 14. Jahrhundert wurden die Dardanellen wieder bedeutsam.1433 wurde Konstantinopel (Istanbul) endgültig von den Türken erobert. Seitdem sind die Dardanellen türkisch geblieben. Der Sultan des Osmanischen Reiches verhinderte bis ins 17. Jahrhundert jedes Durchfahren der Meerenge. Handel im Schwarzen Meer durfte nur auf türkischen Schiffen betrieben werden. Mit dem Auftreten der Russen am Schwarzen Meer unter Zarin Katharina der Großen um 1770 wurde die Meerengen-Frage neu lebendig. Handelsschiffe durften jetzt zwar die Enge durchfahren, für Kriegsschiffe war es aber weiter verboten. 1799 erreichte Russland die Durchfahrt seiner Kriegsschiffe, als die Türkei in Ägypten mit den französischen Truppen unter Kaiser Napoleon im Kampf war. Aber nach der Schlacht von Austerlitz 1805 verboten die Türken von neuem die Durchfahrt. Die Folge war ein Russisch-Osmanischer Krieg, der 1809 durch einen Friedensvertrag beendet wurde. Jetzt schaltete sich Großbritannien ein und erreichte die Sperrung der Meerengen für alle Kriegsschiffe. Der Britisch-Russische Gegensatz in der Meerengenfrage trat zum ersten Mal auf. Der Friede von Adrianopel 1829 erlaubte die Durchfahrt sämtlicher Handelsschiffe, so dass der Handel im Schwarzen Meer kein türkisches Monopol mehr war. 1841 kam in London die erste Meerengenkonvention zustande. Die Dardanellen wurden eine Angelegenheit der internationalen Politik. Die Türkei wurde im Grund von der Hoheit über die Meerengen ausgeschlossen. Die europäischen Staaten setzten allein die Bestimmungen fest. Nach dem Abschluss des Krimkrieges 1856 wurde der alte Vertrag erneuert: Die Bedeutung der Meerenge für Russland und die Türkei war zu Gunsten der großen Weltmächte Großbritannien und Frankreich aufgehoben. Die Türkei wurde von Großbritannien als Puffer gegen Russland benutzt, um die Russen aus dem Mittelmeer fernzuhalten. Der Deutsch-Französische Krieg gab den Russen die Möglichkeit, ihre Forderungen von Neuem anzumelden. Im März 1871 wurde in London der Pontus-Vertrag (Meerengenvertrag) geschlossen. Das bedeutete, dass in Friedenszeiten der Sultan entscheiden konnte, ob er Kriegsschiffe passieren ließ. Noch einmal musste durch den Berliner Kongress 1878 die Meerengenfrage geklärt werden, da ein weiterer Russisch-Osmanischer Krieg 18777/1878 keine Klärung gebracht hatte. Die Russen mussten kurz vor Istanbul ihre Truppen stoppen, da eine britische Kriegsflotte mit einem Angriff auf sie drohte.Der „Kranke Mann am Bosporus“ wurde wieder einmal durch die Eifersucht der Großmächte gerettet. Die Briten wollten nicht, dass Russland in diesem Teil Europas zu stark wurde. Die Türkei behielt die Hoheit über die Dardanellen und wurde nicht vollständig aus Europa verdrängt, wie es Russland und auch Teile der französischen Regierung wollten. Auf Betreiben Großbritanniens wurden die Befestigung der Dardanellen weiter ausgebaut.

Als die britische Militärmission 1914 aus der Türkei abzog, waren die Verteidigungsanlagen der Meerenge aber schon wieder veraltet. Neue Entwicklungen in der Waffentechnik hatten dazu geführt, dass sie mit den vorhandenen Geschützen und Sperren nicht mehr sicher zu verteidigen waren.

Mit dem Eintritt des Osmanischen Reiches in den des Ersten Weltkrieg auf Seiten Deutschlands und Österreich-Ungarns übernahmen deutsche Militärs die Neuorganisation der Verteidigung. Die Waffen lieferte die deutsche Firma Krupp.

Die Sage von Hero und Leander:

Die griechische Sage von Hero und Leander beschreibt die Liebe zwischen diesem Paar, das durch die Dardanellen getrennt war. Leander durchschwamm jede Nacht die Meerenge, um mit Hero vereint zu sein. Damit er den Weg finden konnte, hatte Hero eine Lampe als Wegweiser am Meeresrand aufgestellt. Als die Lampe eines Tages in einem Sturm erlosch, verirrte sich Leander auf dem Meer und ertrank. Am nächsten Morgen entdeckte Hero seinen Leichnam und stürzte sich verzweifelt von einer Klippe in den Tod.  

Der kürzeste Weg nach Konstantinopel ?

  1. Russlands Traum von Konstantinopel
  2. Russische Pläne zur Besetzung der Meerengen
  3. Der kürzeste Weg nach Konstantinopel - ein Planspiel

Russlands Traum von Konstantinopel 

Bis 1915 bestand die größte Gefahr für die Meerengen am Bosporus und an den Dardanellen in einem Angriff aus dem Norden, durch Russland. Großbritannien und Frankreich galten als Garanten der Herrschaft des Osmanischen Reiches über den "Konstantinopelkanal", die wichtige Wasserstraße zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer.

Die Eroberung Istanbuls und der Meerengen ist schon lange vor dem I. Weltkrieg ein Thema gewesen. Dabei lag die Hauptbedrohung in der Vergangenheit weniger in einem Angriff der Franzosen oder Briten. Beide Staaten hatten seit dem 19.Jahrhundert über Verträge, Sonderrechte und Kredite großen Einfluss auf die Politik des Osmanischen Reiches gewonnen. Ihr Interesse bestand darin, durch ein von ihnen kontrolliertes Osmanisches Reich den nördlichen Nachbarn Russland vom freien Zugang zum Mittelmeer abzuhalten. 

Seit der Eroberung von Byzanz durch die türkischen Osmanen (1453) sahen sich die russischen Herrscher als Hüter des orthodoxen Glaubens und führten bald den Titel "Bewahrer des byzantinischen Throns".  In vielen Kriegen gegen das Osmanische Reich gelang es Russland,  große Gebiete um das Schwarze Meer zu erobern, nicht aber den Zugang zu den Wasserstraßen ins Mittelmeer. Das große Ziel, die "Rückeroberung Konstantinopels für die orthodoxe Christenheit"  wurde nicht erreicht.
Aus Angst vor einer weiteren Ausdehnung der Macht Russlands nach Süden und nach Zentralasien kam es zu einem "Great Game" genannten Machtkampf zwischen Briten und Russen, der dazu führte, dass die Briten und Franzosen im Krimkrieg (1854-1856) die Osmanen gegen das Russische Reich unterstützten. Auch im Russisch-Osmanischen Krieg von 1877/78 sorgten sie dafür, dass sich die 60 km vor Istanbul stehenden russischen Truppen zurückziehen mussten.
Zu Beginn des 20.Jahrhunderts nahmen die Spannungen auf dem Balkan  immer weiter zu. Das Osmanische Reich, „der kranke Mann am Bosporus”, schien auf Dauer nicht mehr überlebensfähig. Von seinem Untergang wollten alle großen europäischen Staaten profitieren. 1907 räumte Russland seine "asiatischen" Streitigkeiten mit Großbritannien aus. Die gegenseitigen Interessensphären in Persien und Afghanistan wurden festgelegt. Zuvor hatten sich Großbritannien für Frankreich, die im Nahen Osten die jeweiligen Hauptkonkurrenten waren, über die Aufteilung des Osmanischen Reiches geeinigt. Frankreich sollte Gebiete im Süden der Türkei, Syrien und den Libanon bekommen. Palästina sollte als Pufferzone zwischen den französischen und britischen Einflussgebieten internationalisiert werden.

Nach Beginn des 1. Weltkrieges bot sich Russland die Möglichkeit, mit Hilfe seiner neuen Alliierten Großbritannien und Frankreich  endlich das alte Ziel zu erreichen: die Herrschaft über Istanbul und die Meerengen und damit den Zugang zum Mittelmeer. Im Gegenzug boten die Russen an, den britischen und französischen  Forderungen auf Teile des Osmanischen Reiches zuzustimmen (Persien, Arabien, Kilykien,Syrien, Libanon, Palästina) und  den Franzosen freie Hand für Gebietsansprüche in Deutschland zu geben :  "Nehmen Sie das rechte Rheinufer, nehmen Sie Mainz, nehmen Sie Koblenz, gehen Sie noch weiter, wenn es Ihnen passt. " (Nikolaus II.)

Im Februar 1915 schloss Russland mit Großbritannien und Frankreich das geheime Abkommen über Konstantinopel und die Meerengen. Darin wurde dem Russischen Kaiserreich im Falle eines Sieges im Krieg die Herrschaft über dieses Gebiet zugesprochen. Russland drängte auf schnelle Aktionen, vor allem um über das Schwarze Meer Rüstungsnachschub für den Kampf gegen Deutschland und  Österreich-Ungarn zu erhalten.

Russlands Weg nach Konstantinopel schien weit offenzustehen.

Nach Meinung vieler Geschichtswissenschaftler hätte die Öffnung der Meerengen für die Alliierten zu einer wesentlichen Verkürzung des Weltkrieges beigetragen und den Verlauf der Weltgeschichte geändert.

2. Russische Pläne zur Besetzung der Meerengen

Der amerikanische Historiker Sidney Bradshav Fay beschreibt in seinem 1928 erschienen Buch "Der Ursprung des 1. Weltkrieges" die Versuche Russlands, zunächst allein und dann mit Hilfe der neuen Alliierten Frankreich und Großbritannien die Herrschaft über den Bosporus und die Dardanellen zu erringen. Darin sieht er den russischen Außenminister Sasonow (1860-1927) als treibende Kraft.

Bereits 1896 und 1912 hatte es konkrete Pläne zur Besetzung der Meerengen durch russische Truppen gegeben. Sie wurden fallengelassen, weil die Kampfkraft der russischen Schwarzmeerflotte noch nicht ausreichte und zu wenige Transportmöglichkeiten für Landungstruppen zur Verfügung standen. 

Anfang Dezember 1913 stellt der russische Außenminister Sasonow erneut Überlegungen dazu an:

Wegen der Unsicherheit darüber, ob und wie lange es die Türkei noch gibt, wächst für uns die historische Frage der Meerengen und ein Abwägen, ihrer politischen und  wirtschaftlichen Wichtigkeit für uns. (...)  Wer die Meerengen besitzt, hält nicht nur die Schlüssel des Schwarzen Meeres und des Mittelmeeres; er hat auch den Schlüssel zu Kleinasien und die Vormacht über den Balkan. (...) 

Er fordert den Ausbau der Schwarzmeerflotte, damit sie gegen die Türkische Flotte bestehen könne und in der Lage sei, die Meerengen zu besetzen, zeitweise oder auf Dauer. Die Lösung der Meerengenfrage könne nicht erreicht werden, ohne das es zu europäischen Komplikationen komme. Diese Komplikationen würden Russland aus augenblicklicher Sicht im Bund mit Frankreich finden und in einem möglichen aber noch nicht endgültig gesicherten Bund mit England. 

Am 13.1.1914 kam es zu einem weiteren Gespräch führender russischer Politiker über die Meerengenfrage. In einem langen Bericht an den Zar erklärte der Marineminister Grigorowitsch:

Die systematische und erfolgreiche Vorbereitung von Flottenoperationen zur dominierenden Seekontrolle im Konstantinopelkanal (Bosporus und Dardanellen)und in den Gewässern der Ägäis und des Mittelmeeres die an ihn anschließen, erfordern  sorgfältige und ausdauernde Arbeit, nicht nur durch die Marine, sondern auch durch das Kriegsministerium und einige andere Institutionen, besonders das Außenministerium, das Wirtschafts-, Industrie- und Finanzministerium.  Diese Vorbereitung kann erst in einigen Jahren abgeschlossen sein. (...)Russland muss (...)bereit sein die Meerenge zu besetzen, falls große europäische Komplikationen die Orientfrage zu einem endgültigen Abschluss bringen.

Auf einer Konferenz am 21.2.1914 wurde betont, ", dass es notwendig sei, ohne Aufschub damit fortzufahren, das Programm in jeder Richtung vorzubereiten, die notwendig wäre um die historische Frage der Meerengen zu lösen. " Der Erfolg dieser Operation würde in hohem Maße von der Schnelligkeit abhängen, mit der sie ausgeführt würde. " (...) 

 Die diplomatische Situation sei  im Augenblick nicht ungünstig. Der Armeeoberbefehlshaber " brachte zum Ausdruck, dass der Kampf und Konstantinopel nicht möglich sei ohne einen allgemeinen Krieg in Europa ", in dem die für eine Besetzung der Straßen erforderlichen Kräfte an der Westfront gegen Deutschland benötigt würden. Erfolg dort würde auch Erfolg in der Meerengenfrage bedeuten.

 Dennoch sollte alles für eine Invasion vorbereitet werden. Kurz darauf beschloss die Duma ein 110 Millionen Rubel-Programm zur Verstärkung der Schwarzmeerflotte für die Zeit bis 1917.


1893 - Der kürzeste Weg nach Konstantinopel - ein Planspiel 

Ein deutscher Marineexperte beschreibt in einer Studie die russische Eroberung der Meerengen, 21 Jahre vor Beginn des 1.Weltkrieges.

Die Frage, wie eine gewaltsame Eroberung der Meerengen am Bosporus und an den Dardanellen ablaufen könnte, wurde schon lange vor Beginn des 1.Weltkrieges unter Experten diskutiert. In einer im September 1893 verfassten Studie mit dem Titel "Der kürzeste Weg nach Konstantinopel" beschreibt der ehemalige deutsche Marineoffizier und spätere Lehrer an der Seekriegsakademie in Kiel, Alfred Stenzel, wie russische Streitkräfte im Zusammenwirken von Marine und Heer dabei vorgehen könnten. Anders als bei den tatsächlichen Kämpfen um Gallipoli 1915 wird hier unterstellt, dass der Angriff von Norden, also aus dem Schwarzen Meer, stattfindet.

Stenzel erläutert zunächst noch einmal die Gründe für das Interesse des russischen Reiches am Besitz der Meerengen:

"Die schon seit mehr als einem Jahrhundert Europa bewegende Orient-Frage wird im Fluss bleiben, bis dem Bedürfnis des Russischen Reiches nach überseeischen Verkehrswegen so weit genügt ist, wie die geographischen und politischen Verhältnisse es zulassen."   (S. 1) Nur die Gewinnung von eisfreien Häfen und von Wasserstraßen, welche die Verbindung zwischen den aus dem Inneren des Landes kommenden Haupt-Verkehrswegen und dem offenen Meere darstellen und für Frieden und Krieg möglichst sichern, die mithin einen lohnenden Waaren-Transport über See das ganze Jahr hindurch ermöglichen und zugleich der Kriegsflotte freie Bewegung und günstig gelegene Operationsbasen verschaffen, kann das bewirken.(...) Deshalb bleibt das Augenmerk stets auf die nach dem Mittelmeer führenden Straßen gerichtet. Und diese sind auch von jedem Gesichtspunkte aus bei Weitem die wichtigsten (...).
Bei der andauernden, wenn nicht zunehmenden Schwäche der Türkei entspricht es demnach nur der Natur der Dinge, dass Russland die Beherrschung des Bosporus und der Dardanellen (...) anstrebt (...).  (S.5/6)

Dann kommt er zu dem Schluss:

Die Lösung dieser großen Frage kann aber nur durch die Gewalt der Waffen herbeigeführt werden, daher beschäftigen sich militairische Kreise vielfach mit derselben."  (S.6) 

Im Anschluss an eine Einschätzung der Verteidigungs- und Angriffsmöglichkeiten beider Seiten beschreibt Stenzel schon 21 Jahre vor Beginn des I. Weltkrieges auf erschreckend genaue Weise die Situation unmittelbar vor dem Kriegsbeginn: 

" Der Sommer neigt sich dem Ende zu und alles, was nicht an die Hauptstädte gebunden ist, befindet sich noch auf Erholungsreisen oder in der Sommerfrische; der bisherige Friedenszustand, in dem alle civilisirten Staaten Europas einander bis an die Zähne bewaffnet und zum sofortigen Losschlagen am Lande wie auf See bereit gegenüberstehen, dauert noch fort, aber abgesehen von den schon lange am Horizont lauernden Gewitterwolken und schwüler, dunstiger Luft ist nichts Drohendes am politischen Himmel zu bemerken. Es ist die allgemeine Zeit der großen Manöver; wie anderwärts , so werden auch in Russland an verschiedenen Stellen große Truppenmassen, durch Reserven verstärkt zusammengezogen,

(...)
Der russische Botschafter in Konstantinopel hat wie immer eine Anzahl von "Fragen" an der Hand (...). Über eine jener Fragen hat er seit einigen Wochen wieder in einem der Jahreszeit angemessenen Tempo, seit kurzem etwas lebhafter, verhandelt; jetzt schlägt er eine deutlichere Tonart an und überreicht am 31. August eine jener bekannten drohenden Noten mit dem Verlangen schleuniger Antwort, mit der sich die Pforte (die türkische Regierung) aber nach ihrer Art nicht beeilt." (S.48)

Am Abend des  1. September fährt ein ziviles russisches Schiff, "Orel", durch den Bosporus. Es ist angeblich mit einer großen Anzahl von Sträflingen besetzt. Ziel des Schiffes soll nach einer Reise durch den Suezkanal, den Indischen Ozean und das Chinesische Meer der Hafen von Wladiwostok im fernen Osten Russlands sein. Das ist kein ungewöhnlicher Vorgang. Die osmanischen Behörden lassen das Schiff deshalb passieren. Am Morgen des 2. September ankert "Orel" wegen eines "Maschinenschadens" vor der Stadt Gallipoli in den Dardanellen. Dieses Schiff wird wenig später eine wichtige Rolle spielen. 

 Am frühen Morgen des 2. September, kurz nach Mitternacht, schickt der russische Botschafter in Istanbul durch einen höheren Beamten ein "als wichtig und dringlich" bezeichnetes Schreiben zur "Pforte".
"Der Beamte kann das Schreiben nur an den Pförtner des Ministeriums abgeben, da sonst niemand im Hause ist, schärft demselben aber die größte Eile ein, worauf dieser sich vornimmt, es dem Minister gleich bei dessen Ankunft am anderen Mittag einzuhändigen - es ist die Kriegserklärung. " (S. 49) 

Nur 3 Stunden später beginnt die russische Flotte mit dem Überraschungsangriff auf die nördliche Mündung des Bosporus. Der Durchbruch gelingt, Istanbuls Kasernen und Waffenarsenale werden in Brand geschossen. Gleichzeitig werden starke Invasionstruppen östlich und westlich von Instanbul gelandet. Der türkischen Regierung wird die schriftliche Aufforderung zur sofortigen bedingungslosen Übergabe der Stadt übermittelt. 

Weiter südlich kommt jetzt das angebliche russische Gefangenenschiff "Orel" zum Einsatz.
" Vor Gallipoli haben währenddessen "Orel", der 2500 Mann Infanterie und eine Batterie an Bord hat, sowie die in der Nacht neben ihm zu Anker gegangenen Minendampfer "Bug" und "Donaj", auf denen je 250 Mann eingeschifft sind, (...) mit den Vorbereitungen zur Ausschiffung begonnen; um 5 h morgens landet die erste Staffel, ein Bataillon von 500 Mann, an den nur 6-700 m entfernten Anlegebrücken und überrascht die türkische Garnison völlig, so dass ihr nichts übrig bleibt, als sich nach kurzem Handgemenge zu ergeben." (...) aller Verkehr aus der Stadt nach dem Lande, wie nach dem Wasser hin (wird) gehemmt. Die Ausschiffung der Truppen (...) nimmt dann ungehinderten Fortgang; das zweite der 6 verfügbaren Bataillone bleibt noch in der Stadt, das dritte und vierte besetzen die Höhen hinter derselben und richten auf geeigneten Bergkuppen Beobachtungsposten ein,(...) das fünfte und sechste marschieren nach der Linie von Bulair, wo nur ein Wachtcommando sich befindet, und besetzen dieselbe. Sobald "Bug" und "Donaj" ihre 500 Mann Truppen ausgeschifft haben, beginnen sie mit dem Legen einer Minensperre von Gallipoli nach der gegenüberliegenden Chardak-Spitze (...) wozu die Hälfte ihrer 850 Minen ausreicht; zum Passieren von Schiffen bleibt eine Lücke von 200 m Breite zunächst Gallipoli offen, die durch die mitgebrachte Batterie gedeckt wird." (S. 54/55) 

Die türkischen Artillerie-Regimenter in den Verteidigungsanlagen der Dardanellen können selbst nicht eingreifen. Sie müssen jederzeit mit einem Angriff auf eines der 19 Forts rechnen. "Auf Hilfe von außen her war nicht zu rechnen, da die Leitung der Dinge von Konstantinopel aus, woher man sonst alle Befehle zu erhalten gewohnt war, schon am 3.September früh völlig aufgehört hatte (...).  (S.63) 

Erst jetzt treffen Meldungen über die Kämpfe im Ausland ein:
" Nach den Hauptstädten Europas waren gegen Mittag des 3.September Drahtnachrichten über russische Landungen bei Iniada und Gallipoli gelangt, aber als unglaubwürdig und vermuthliches Börsen-Manöver nicht für Ernst genommen worden.(....) Die im Lauf des Nachmittages und Abends aus den Dardanellen über Saloniki einlaufenden Nachrichten, welche die Landung der Russen in Gallipoli bestätigten und das Legen einer Sperre in der Meerenge anzeigten, erregten (...) Unruhe, erschienen jedoch zu unglaubwürdig (...) Aus Petersburg war noch keine Aufklärung angelangt; erst am 4.September morgens wurde Europa von dort aus durch die Nachricht von der Kriegserklärung Russlands gegen die Türkei unter ausführlicher Begründung und gleichzeitig mit der von der erfolgten Besitznahme von Konstantinopel überrascht. 

Die Engländer schicken zum Schutz der Meerengen gegen den russischen Angriff ihr Mittelmeer-Geschwader zu den Dardanellen. Es kann aber erst am 7.September dort eintreffen, weil es 600 Seemeilen entfernt ist..

Schon am 4.September mittags indessen waren von den am Bosporus entbehrlich gewordenen  (russischen) Truppen 2000 Mann aus Bujukdere-Bai nach Gallipoli abgegangen; im Laufe des Nachmittags traf der zweite Transport (...) 10000 Mann Infanterie und 8 Batterien (...) vor dem Bosporus ein und erhielt Befehl, sofort nach Gallipoli weiter zu gehen. (...) Alle diese Streit-Kräfte und -Mittel mit Ausnahme der für die Linie von Bulair bestimmten Festungsgeschütze, standen mithin am 5. September früh zum Angriff auf die Dardanellenbefestigungen zur Verfügung; derselbe erfolgte nach bewirkter Ausschiffung oberhalb der Nagara-Spitze bzw. Bogali Kalessi gleichzeitig auf beiden Ufern vom Lande und Waser aus. Am Abend waren diese Werke, sowie die nur 6-7 1/2 km davon entfernten des zweiten Abschnitts, die an der engsten Stelle liegenden Chanak-Kalessi und Kilid-Bar, in den Händen der Russen (...). Ein Gleiches geschah bis zum 6. September mittags bezüglich der Schlösser an der südlichen Einfahrt, Sed il Bar und Kum-Kalessi.  (S.63/64)

Als die englischen Panzerschiffe eintreffen, ist die Einfahrt zu den Dardanellen schon durch Minen gesperrt und die Geschütze der Festungen sind auf sie gerichtet. Sie müssen in der Besika-Bucht vor Anker gehen und weitere Befehle abwarten. Die Russwen ahben so Zeit, sich in ihren neuen Positionen festzusetzen.

"Die Linie von Bulair war völlig armirt, durch hochgelegene Batterien gegen Flankenfeuer von feindlichen Schiffen aus dem Golf von Saros her verstärkt und mit 5000 Mann besetzt. Zur Abwehr von Landungen auf der Halbinsel Gallipoli waren an einzelnen Stellen Batterien angelegt und Signal-Stationen eingerichtet; hauptsächlich aber war dafür ein Corps von 30000 Mann mit zahlreicher fahrender Artillerie bestimmt, von dem die eine Hälfte in der Stadt Gallipoli lag, die andere in einem Lager bei Turchenkioi untergebracht war. Auf asiatischer Seite waren zur Sicherung gegen einen Handstreich von der Besika-Bai aus 5000 Mann, wovon 1000 Mann Cavallerie, in einer starken und befestigten Stellung im Süden von Kum-Kalessi aufgestellt.(...) (...)das Schwarze Meer ist fortab ein russisches mare clausum.  (S. 65)

Die gesamte einsatzfähige russische Flotte befindet sich inzwischen bei den Meerengen. In der Sarisiglar-Bucht bei Chanakkale werden Schlachtschiffe und Torpedoboote stationiert. Damit haben die Russen ihr Ziel erreicht:

(...) Hiernach würden einschließlich der Besatzungen der Dardanellen- und Bosporus-Befestigungen
115-120000 Mann genügen, um Konstantinopel mit den beiden Meerengen und dem zu ihrer Vertheidigung nothwendigen angrenzenden Gebiet solange sicher zu halten, bis Nachschub aus der Heimat in beliebiger, jedem Bedarf entsprechender Stärke Mittels der bereitliegenden Transportflotte herangekommen sein kann.  (
S.66)

Eine Landung englischer oder französischer Truppen sei nicht zu erwarten, " da England allein dazu außer Stande ist und bei der gegenwärtigen Haltung Frankreichs kaum einen Verbündeten finden würde, der sich auf ein solches Unternehmen im Mittelmeer einließe. (...) So kann Russland, dessen actives Heer allein ohne Reserve-Armee etc. auf Kriegsfuß nach Abzug jener 120000 Mann noch ca. 900000 Mann stark ist, unter Aufstellung einer großen Truppenmacht an seiner Westgrenze die weitere Entwickelung der Dinge ruhig abwarten (...). 

Mit Konstantinopel als dritter Hauptstadt, dem Goldenen Horn (oder einer günstig gelegenen Bucht im Marmara-Meere) als Kriegshafen und der Hagia Sophia von Neuem als Mittelpunkt der Griechischen Kirche eröffnet sich dem Reich des Czaren eine unabsehbare Perspective weiteren Emporblühens und weiterer Machtentfaltung auf staatlichem, wie auf kirchlichem Gebiet."  (S.66)

Als Ergebnis seines Planspiels stellt der Autor fest:

" Mag daher das Urtheil des Generals Brialmont im Einzelnen zu weit gehen, unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit einer kräftigen, engergisch geführten Flotte trifft es im Allgemeinen zu:
  

Der gegenwärtige Vertheidigungszustand von Konstantinopel ist ungenügend."  (S.66/67)

Zum Schluss geht Stenzel darauf ein, was zu geschehen habe, um Istanbul und die Meerengen wirksam zu schützen. Die Vorschläge verschiedener Militärstrategen, nur die Befestigungsanlagen zu verstärken, lehnt er ab. Als Seeoffizier fordert er vielmehr "eine (...) mit durchgebildetem Personal bemannte, wohl geübte, schlagfertige Flotte unter sachkundiger und kräftiger Leitung (...). Daneben ist es geboten, das Durchlaufen feindlicher Schiffe durch den Bosporus und die Dardanellen unter Anwendung der wirksamsten Mittel so gefährlich zu machen, wie möglich (...). (S.71/72)

In der Sicherung der Meerengen sieht er "(...)die Entscheidung über die künftige Stellung der Türkei im europäischen Staaten-Concert und vor allem über den Besitz von Konstantinopel mit den weitgehenden Folgen, die sich daran für die Uferstaaten des Schwarzen Meeres, für den ganzen Orient und weit darüber hinaus knüpfen (...).  (S. 73)

Zusammengefasst :   Herr Kassenbrock

Quelle: 

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